"Vom Großen im Kleinen" - Einleitungskapitel:

 

Ein Ende am Anfang des Endes

 

Soldaten waren auf dem Hof. Wieder einmal, sollte man wohl sagen. Denn schon zu Kaisers Zeiten hatte die Bauernstelle bei Willenberg im Masurischen immer wieder bei Manövern, die sich Allerhöchster Beliebtheit erfreuten, als „Soldatenhof“ gedient, wie die Leute sagten.

Hier hatten die Männer Waschgelegenheit am Ufer der Sawitz  (Ein kleiner Kiesstrand gehörte zum Hof.), und als Schlafgelegenheit musste der Hühnerstall herhalten. So auch diesmal, im späten August 1939. Was die Soldaten vorhatten, wusste die kleine Eva Baumgarth nicht, es war ihr wohl auch herzlich gleichgültig. Die Fremden waren freundlich und spielten mit ihr, und jeden Tag durfte die Halbwaise einen neuen „Papa“ unter den Soldaten aussuchen. Derweil bereiteten sich die Militärs auf etwas vor. Überall war es so in jenen Tagen an der deutsch-polnischen Grenze.

Am 30. August kam ein Offizier auf den Hof gefahren. Sein Name und Rang sind nicht auf uns gekommen, aber seinen Auftrag kennen wir: Er war auf Inspektionsreise durch die Dörfer Masurens, und so kam er auch auf das Baumgarthsche Anwesen. Er sah nach den Männern und unterhielt sich mit der Bäuerin, Emma Baumgarth. Wilhelm, ihr Mann, war im Vorjahr verstorben, erst einundvierzigjährig. Vielleicht machte der Offizier eine Bemerkung über einen Hof ohne Mann, wir wissen es nicht. Jedenfalls aber berichtete Emma von ihrem Vater, der oben im Bett lag. Als der Offizier den Namen des Alten hörte, Christoph Saager, wurde er unruhig. Er war Patenkind eines Christoph Saager. Man verglich die Lebensgeschichte des Paten mit der des Vaters und stellte fest: Es ist derselbe! Der Offizier wurde nach oben geführt in des Alten Kammer, und obwohl der alte Mann schon seit Jahren erblindet war, erkannte er sein Patenkind. Sofort wurde der Greis noch einmal, ein letztes Mal, ganz der Lebemann, der er zeitlebens gewesen: Emma wurde geschickt, Wein sollte sie holen und Cognac, den echten, französischen, und Zigarren („Aber von den guten!“). Lange saßen die Herren beisammen, ließen sich’s gut gehen und redeten. Einmal noch war er der Mann von Welt, der Herr Landgerichtsrat Christoph Saager, einmal noch Gastgeber und geachteter Gesprächspartner. Und er wusste Interessantes zu berichten. Hätte der Offizier die Zeche des Abends zahlen müssen, er hätte sie wohl als Spesen verbuchen können, denn Saager konnte detailliert Bericht geben von Grenzverlauf und Beschaffenheit des Geländes. Blind war er, aber zuvor hatte er manches gesehen, und als passionierter Jäger kannte er die Region wie kaum einer! Man verabschiedete sich spät.

Schon am nächsten Morgen war der Offizier zurück, aber nicht allein: Eine komplette Militärkapelle hatte er mitgebracht, als Reverenz an den Paten. Den niedrigsten Rang konnte er wohl nicht bekleidet haben, der Offizier...

Die Kapelle legte los, schmissig, wie man annehmen darf, und Emma kam erstaunt mit den Kindern auf den Hof. Nein, was würde das den Vater freuen! – Aber etwas in Sorge war sie doch: Hatte nicht Grete, die ältere Tochter, berichtet, dass der Alte die Milchsuppe, die sie ihm wie jeden Morgen gebracht, nicht hatte essen wollen? Unauffällig stahl sie sich in den ersten Stock.

Wir wissen nicht, ob Christoph Saager noch die ersten Takte der Kapelle, die zu seinen Ehren auf dem Hof versammelt war, gehört hatte, wollen es aber hoffen. Als seine Tochter die Kammer betrat, war er jedenfalls schon abberufen. Nach 94 Jahren war sein Leben zu Ende gegangen, still und unauffällig. Der Gutsbesitzersohn, der leidenschaftliche Jäger mit den silberbeschlagenen Waffen, der Richter mit sieben Stiefkindern und zwei eigenen, der immer so gerne und so üppig gelebt hatte, üppiger oft, als er sich’s erlauben konnte, hier auf dem Bauernhof bei Willenberg an der Sawitz kam er zur Ruhe.

Aber was für einen Tag hatte er sich dafür ausgesucht! Der 1. September 1939, Tag unauslöschlicher Schande im deutschen Kalender, aber das wusste man damals noch nicht. Was man wusste, zumindest der Offizier wusste es sehr genau: Man befand sich im Krieg mit Polen (und wenig später mit der ganzen Welt). Sehr bald würden nun in den Grenzgebieten ganz andere Sorgen auf die Menschen einstürmen als Beerdigungen und würdige Zeremonien. Der Offizier erwies sich als Pragmatiker, er holte einen Militärarzt, ließ einen Totenschein ausstellen und organisierte die Beerdigung noch am selben Tag an Ort und Stelle. Vielleicht hätte der Herr Landgerichtsrat sich eine etwas repräsentativere Veranstaltung gewünscht, seiner Familie aber war mit diesem „kurzen Prozess“ gedient. Allerdings wurde noch Wochen später Emma in der Stadt gefragt, wie es denn ihrem Vater gehe...


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