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Der kleine Theo

Theo war ein Tier, aber keiner wusste so genau, was für eines. Denn in dem Wildgehege, in dem er großgeworden war, gab es kein anderes Tier wie Theo.

Theo war allein aufgewachsen, weil der Zoo, in dem er geboren wurde, ihn kurz nach seiner Geburt an ein Gehege verschenkt hatte. Oh, er hatte schon Freunde gefunden: Oskar, das Wildschwein, Herzelinde, die elegante Otterdame, oder auch Albert, den jungen Hirschbock. Der war ein bisschen hochnäsig, er bestand darauf, nicht irgendein Hirsch zu sein, sondern ein Mitglied der Sickerwildfamilie. Aber sonst war er ganz in Ordnung. Theo spielte auch gerne mit den Kindern der Familie Pfau, aber er konnte sie schlecht auseinanderhalten, und wenn er ihre Namen verwechselte, dann waren sie beleidigt.

Er hatte also viele Freunde im Wildgehege, unser Theo. Und trotzdem war er oft traurig. Sein Kumpel Oskar war mit sieben Geschwistern auf die Welt gekommen, und die Pfauenkinder waren sogar zu neunt. Die elegante Herzelinde war selbst schon verheiratet und hatte zwei Kinder (Die waren aber noch zu klein, deshalb konnte Theo nicht mit ihnen spielen.). Auch Albert stammte aus einer großen Familie, und er konnte sogar auswendig alle seine Vorfahren bis zu seinem Urururururgroßvater aufsagen. Theo aber gehörte zu keiner dieser Familien: Er hatte nicht so beeindruckende Hauer wie Oskar und er konnte nicht halb so gut schwimmen wie Herzelinde. Mit Albert konnte er sich schon überhaupt nicht vergleichen, der war ja achtmal so groß wie Theo. Was für ein Tier er nun eigentlich war, wusste Theo nicht, es hatte ihm ja keiner gesagt. Aber dass er nicht zu den anderen Tierfamilien gehörte, das konnte er sehen, und so schlich er abends, wenn die Familien zum Schlafen zusammenkamen, allein in seine kleine Hütte.

Wie alle Tiere im Wildgehege ging Theo mit seinen Sorgen zu Klytämnestra, der Schleiereule. Eigentlich hieß sie Käthe und war ein Waldkauz. Aber sie hatte von klein auf immer gut zugehört, was sich die Besucher im Gehege so erzählten. Dabei hatte sie erfahren, dass Eulen als besonders weise gelten, und fortan hatte sie ihr Gefieder ein wenig aufgeplustert und den übrigen Tieren erzählt, das Schild an ihrer Voliere sei ein Irrtum: Eigentlich müsste da nicht „Waldkäuzchen“ stehen, sondern „Schleiereule“. Die Tiere waren beeindruckt, und fortan war Klytämnestra die Ratgeberin des Geheges. Zu ihr also ging Theo eines Abends und fragte: „Ich sehe hier jeden Tag, was für ein Tier ich nicht bin, aber wer bin ich denn nun eigentich?“ Klytmenästra gab nicht gerne zu, wenn sie etwas nicht wusste, und so plusterte sie sich noch etwas mehr auf, räusperte sich und sagte gewichtig: „Theo, mein Junge, du wirst nie erfahren, wer du bist, wenn du immer nur auf die schaust, die anders sind!“ Wie immer, wenn sie glaubte, etwas Bedeutendes gesagt zu haben, schaute sie einen Moment in die Ferne, seufzte dann tief und steckte ihren Kopf ins Gefieder. Ihre Sprechstunde war beendet.

In dieser Nacht konnte Theo nicht schlafen. Er hatte im ganzen Wildgehege noch nie jemanden getroffen, der nicht anders gewesen wäre als er selbst. Klytemnästra hatte gut reden, selbst sie, die einzigartige Schleiereule, wohnte mit Alfred, dem Waldkauz, zusammen, der ihr erstaunlich ähnlich sah, auch wenn er nur selten etwas sagte. Theo überlegte hin und her, wie er jemanden treffen könnte, der ihm ähnlich wäre, und am frühen Morgen hatte er einen Entschluss gefasst: Er würde hinausgehen in die Welt und jemanden finden!

Er lief bis ans äußerste Ende des Geheges, wo die Biber ihren Damm gebaut hatten. „Guten Morgen, Madame Biber!“ sagte er sehr freundlich, denn Bernadette, die Bibermutter, legte großen Wert auf Höflichkeit. „Guten Morgen, Theo“, erwiderte sie und lächelte ihn an. Theo erklärte der Biberin sein Vorhaben. Bernadette zog die Stirn kraus und sagte nachdenklich: „Bist du da auch ganz sicher, kleiner Theo? – Die Welt da draußen ist anders als das Gehege hier. Da gibt es Fallen und Autos und Jäger, da ist es gefährlich für ein kleines Tier wie dich!“ Aber Theo gab nicht nach. Er hatte sich entschieden. „Also gut!“ seufzte Madame Biber schließlich. „Aber sag‘ nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“ Sie rief ihren ältesten Sohn Jochen, der Theo den Weg durch den Biberbau nach draußen zeigen sollte. Jochen und Theo rannten gemeinsam durch den Bau, der wie ein Labyrinth war: Ständig zweigten rechts und links Gänge ab, und Theo hätte sich schon nach wenigen Schritten hoffnungslos verirrt. Jochen aber kannte sich aus, und so kamen sie bald zu einer Stelle, an der ihr Weg sich zu einer Höhle verbreiterte und an einer Art kleinem See endete. „So“, sagte Jochen, „jetzt müssen wir nur noch ein Stückchen tauchen, dann sind wir draußen.“ „Tauchen?“ fragte Theo ängstlich. „Ich kann nicht tauchen!“ „Du bist wirklich kein Biber!“ lachte Jochen. „Dann halt dich an meinem Schwanz fest, halt die Luft an und mach die Augen zu!“ Theo hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben, aber er legte sich halb auf den breiten, platten Schwanz des Bibers, machte die Augen fest zu und klammerte sich mit einer Pfote fest. Mit der anderen Pfote hielt er sich die Nase zu, so gut es ging.  Jochen rutschte mit ihm vom Ufer, und im Nu war Theo komplett im Wasser. Theo konnte schwimmen, wenigstens ein bisschen, aber er hatte noch nie den Kopf unter Wasser gehabt. Das war ihm unheimlich, und unheimlich war auch, wie schrecklich schnell Theo sich sich in dem kleinen See bewegen konnte. Und obendrein durfte man nicht versuchen, unter Wasser zu atmen! Theo merkte, wie ihm immer komischer wurde, je länger Jochen mit ihm unterwegs war, er hatte so einen seltsamen Druck auf der Brust, der immer stärker wurde. Schließlich hielt er es nicht mehr aus: Er riß den Mund weit auf, doch was hereinkam, war nicht Luft zum Atmen, sondern kaltes Seewasser! – Gott sei Dank erreichte Jochen in diesem Moment das Seeufer. Er schubste Theo aus dem Wasser. Theo hustete und spuckte Wasser, aber er war auf der freien Seite angekommen!

„So, Kleiner“, meinte Jochen, „ab hier musst du allein weiterkommen. Pass gut auf dich auf!“ Er gab Theo noch einen Klaps auf den Rücken (einen vorsichtigen, wegen der Stacheln!), dann verschwand er schnell in Richtung Biberdamm. Theo schaute sich um. Eigentlich sah der Wald hier genauso aus wie im Gehege, nur standen die Bäume etwas dichter und die Tiere waren viel vorsichtiger. Er sah ein junges Reh am Rand einer Lichtung, aber da es ihn nicht kannte, lief es schnell weg, als es ihn sah. Theo lief tiefer in den Wald hinein, aber den ganzen Tag ging es ihm so wie mit dem Reh: Er war den anderen Tieren fremd, und sie liefen vor ihm weg.

Es war schon später Nachmittag, und seine kleinen Füße taten ihm bereits ordentlich weh vom vielen Herumlaufen, als er auf ein Tier traf, das nicht vor ihm weglief. Es war schwarz-weiß wie er, aber es hatte keine Stacheln, und es war viel größer. „Wer bist du denn?“ fragte Theo neugierig, erfreut, endlich einen Gesprächspartner gefunden zu haben. „Ich bin Darius, der Dachs“, antwortete das Tier, „und so einen komischen Igel wie dich habe ich zwar noch nie gesehen, aber fressen werde ich dich trotzdem!“ Er fletschte die großen Zähne und holte mit seiner gewaltigen Pranke zum Schlag aus. Theo fiel erst jetzt auf, was für scharfe Krallen Darius hatte. Aber er hatte keine Zeit, sie näher zu betrachten, sondern rannte um sein Leben. So schnell und so lange war er noch nie gerannt. Er hörte erst auf damit, als er sicher sein konnte, das der Dachs ihm nicht mehr auf den Fersen war. Erschöpft ließ er sich unter einer Eibe nieder, schaute in den Wald, der in der einsetzenden Dämmerung immer dunkler und unheimlicher wurde, und war noch viel trauriger als zuvor im Wildgehege.

„So, das hast du nun davon, Theo“, sagte er zu sich selbst. Es war ja sonst keiner da, der mit ihm sprechen wollte. „Jetzt bist du aus dem Gehege weggelaufen, um jemanden zu finden, der so ist wie du. Aber hier ist auch niemand. Alle Tiere hier sind anders, und mit dir spielen will auch keiner!“ Er seufzte fast so tief wie Klytämnestra, die Schleiereule. Dann aber fiel ihm ein, was der Dachs Darius gesagt hatte! „Komischer Igel!“ hatte der Dachs gesagt. Theo wusste nicht, was ein Igel ist, aber der Dachs schien es zu wissen. Vielleicht war das die Familie, nach der Theo suchen musste? – Er probierte das Wort aus: „Komischer Igel!“ sagte er vorsichtig, und dann gleich nochmal: „Komischer Igel!“ Klang gar nicht so schlecht, fand Theo. Gleich morgen würde er sich auf die Suche nach komischen Igeln machen, irgendwer würde ihm schon bei der Suche helfen. Und obwohl er hundemüde war und seine Füße schmerzten, heiterte ihn der Gedanke so auf, dass er ein kleines Freudentänzchen unter der Eibe aufführte. Seine Stacheln rasselten und klapperten nur so aneinander, und er sang aus Leibeskräften: „Komischer Igel! Komischer Igel, komischer Igel, komischer Igel!“ „Igel sind nicht komisch!“ unterbrach ihn eine strenge Stimme. Theo war derartig erschrocken, dass er mit einem Satz in das nächstgelegene Gebüsch sprang, leider einen Brombeerstrauch. Er sträubte seine Stacheln etwas, damit ihm die Brombeerdornen nicht zu nahe kommen konnten, und lugte vorsichtig unter dem Strauch hervor. Unter der Eibe, wo er vorher gesessen hatte, war jetzt ein Tier, das ihm tatsächlich ähnlich war! Jedenfalls war es das erste andere Tier mit Stacheln, das er je gesehen hatte. „Was soll das Getanze und Gespringe?“ sagte das Tier gereizt. „Komm schon raus aus dem Strauch, und vielleicht kannst du bei der Gelegenheit ein paar Brombeeren mitbringen, die sind nämlich gerade reif!“ Ganz vorsichtig kam Theo aus dem Strauch hervorgekrochen, und ein paar Zweige blieben an seinen Stacheln hängen. „Na also, geht doch!“ brummte das Tier. Es war kleiner als Theo, und die Stacheln waren viel kürzer, aber immerhin hatte es Stacheln! „Bist du ein komischer Igel?“ fragte Theo vorsichtig. Nun regte sich das Tier auf. Es sträubte seine Stacheln, stellte sich auf die Hinterbeine und sah ein bisschen so aus wie Klytämnestra, wenn sie sich aufplusterte. „Igel sind nicht komisch!“ wiederholte das Tier ziemlich laut. „Igel sind hart arbeitende, strebsame und ordentliche Tiere, und sie sind nicht komisch!“ „Entschuldigung!“ stammelte Theo. „Ich bin Theo, und vorhin hat der Dachs gesagt, ich sei ein komischer Igel, und da hab ich gedacht...“ „Oh“, meinte das Tier erschrocken, „vom Dachs musst du dich fernhalten! Dir ist doch hoffentlich nichts passiert? Ich bin übrigens Hermann-Josef Igelmeier! Wie kommst du eigentlich hierher? Ich habe dich noch nie im Wald gesehen.“ Da erzählte ihm Theo seine Geschichte und all die Abenteuer, die er bis zu diesem Moment schon erlebt hatte.[...]


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