Leseprobe "Nobbe 3"

(Den richtigen Titel gibt’s schon, er wird aber noch nicht verraten!)

Kapitel 1 – Dienstag, 16. September, nächtens

 

„Wie kann man nur so unfassbar dämlich sein?“ murmelte ich vor mich hin, während ich am Ufer des Biggesees entlang stapfte.

 

Ständig bohrten sich spitze Steine durch meine Taucherflossen, was die ohnehin schon lästige Fortbewegung noch hässlicher machte. Es war drei Uhr nachts, es war stockfinster, und ich traute mich nicht, die Taschenlampe anzumachen, aus Angst, ein schlafloser Dauercamper am gegenüberliegenden Seeufer würde den Schein sehen und vielleicht – hocherfreut, mit irgendjemandem zu sprechen – die Ordnungsmacht alarmieren. Und die bewaffneten Kräfte der Republik, wie mein Kumpel Heinz aus Halle sie immer noch nannte, waren so ziemlich das Letzte, was ich derzeit brauchen konnte. Ich fluchte kurz und gotteslästerlich über einen Mini-Stalagmiten, der sich in meine rechte Ferse gebohrt hatte, und nahm meinen Gedanken wieder auf.

 

„Gar kein großes Problem“, hatte Rudi gesagt. „Echt, kein Thema!“

 

Und wie hätte ich meinem ältesten und besten Freund einen Gefallen abschlagen können? – Seit unserer Kindheit hatte er auf mich aufgepasst, und bei den Gelegenheiten, wo das nicht geklappt hatte, war ich selbst schuld gewesen. Trotzdem, es hätte mir gleich komisch vorkommen müssen, als Rudi mich allein sprechen wollte und mit mir zum Harkortsee in Hagen gefahren war. Rudi hat’s nicht so mit der lieben Natur, er wollte nur sichergehen, dass uns niemand stört. – Hatte auch keiner, und so stapfte ich nun in Tauchermontur am Ufer einer der beliebtesten Sauerländer Naherholungstalsperren entlang.

 

Passenderweise liegt am Fuß der Staumauer die JVA Attendorn-Ewig, ging es mir durch den Kopf. Wenn sie dich erwischen, können sie dich gleich da unten abliefern...

 

„Alles kein Problem!“ hatte Rudi gesagt. „Du machst ein paar Tage Erholungsurlaub am schönen Biggesee, zusammen mit Paul.“ – Meinen Freund, Gefährten, Geliebten. – „ In einer Nacht springst du dann kurz mal ins Wasser, holst das Päckchen und fertig!“

 

Ich hatte ihn fragen wollen, warum er’s denn nicht selbst machte, wenn’s so verflucht einfach wäre, aber ich kannte die Antwort: Seit Ray, sein zeitweiliger Zellenkumpan, Lover und mittlerweile Geschäftspartner, aus dem Knast in Werl entlassen worden war, standen die beiden unter mittelstarker Beobachtung. Man beschattete sie nicht ständig, aber man hatte ein Auge auf sie und legte Wert darauf, dass sie das wussten.

 

Mittlerweile war ich da angekommen, wo das Wasser ans steinige Ufer plätscherte. Ende September war der See noch reichlich angewärmt von einem rekordverdächtigen Sommer, außerdem hatte ich eine nagelneue Neoprenhaut übergestreift, die vermutlich auch das Tauchen Mitte Februar zu einem klimatischen Vergnügen gemacht hätte. Trotzdem zitterte ich. Es war lange, viel zu lange her, als ich zum letzten Mal getaucht war (Nämlich an einem herrlichen Augustnachmittag vor Barbados!), und ich war nicht völlig überzeugt, dass es sich mit dem Verhalten unter Wasser genauso verhielt wie mit dem auf einem Zweirad.

 

Du wirst es schon nicht verlernt haben, spornte ich mich an und stapfte tapfer in den See hinein. Ich wusste, dass sich das Ufer beinahe zehn Meter lang nur sehr gemächlich absenkte, um dann steil abzufallen. Bei Tag war das relativ leicht abzuschätzen, in dieser Nacht bemerkte ich die Kante allerdings erst, als ich mit einer Flosse ins Leere trat und laut klatschend auf der Seeoberfläche aufschlug. Ich unterdrückte einen erneuten Fluch, verhielt mich still, lauschte und starrte in die Nacht. Ich konnte kein plötzlich aufflammendes Licht erkennen, hörte kein Hundegebell, still ruhte der See.

 

Zu drei Minuten völliger Reglosigkeit konnte ich mich zwingen, dann machte ich mich fertig und glitt den Steilhang entlang in die Tiefe. Für jemanden, der unbemerkt durch den Wald pirschen will, ist ein wolkenverhangener, mondloser Himmel hilfreich, für Taucher gilt das ganz und gar nicht. Ich ließ mich sehr langsam hinab, immer in Tuch- (bzw. Neopren-) Fühlung mit dem Abhang, und erst als ich mir ziemlich sicher war, man könnte es an der Oberfläche nicht mehr wahrnehmen, schaltete ich das Grubenlicht an, das kurz über meiner Taucherbrille mitten auf meiner Stirn prangte. Ich sah genau, was ich erwartet hatte: An meiner Rechten den Hang, steinig und algig, ansonsten Wasser, nur algig. Die alten Geschichten über den Biggesee fielen mir ein, die wir in den letzten Tagen in der einen oder anderen Kneipe gehört hatten, Stories von riesigen Aalen und Welsen und Hechten. Ich hatte es nicht so mit unseren geschuppten Mitgeschöpfen, deshalb war mir auch gänzlich schleierhaft, ob einer dieser Fische überhaupt in einer Sauerländer Talsperre leben konnte. Bei Nacht, mit einer Sichtweite, die man sehr bequem in Zentimetern ausdrücken konnte, und allerlei Botanik, die einem entgegen waberte, gewannen die Erzählungen eine Glaubwürdigkeit, auf die ich sehr gut hätte verzichten können. Die aufkommende Paranoia ließ mich sogar die Kirchturmglocken des Dorfes Listernohl hören, das einst in den Fluten des Stausees versunken war. Das Dorf lag ein ordentliches Stück von meiner Abstiegsstelle entfernt, im Wasser pflegen Glocken nicht zu läuten, und die in Rede Stehenden hatte man ohnehin entfernt, ehe das Wasser kam. Aber was nützen solche Überlegungen bei Nacht etc.? Etwas hielt mich fest, und ich schlug und strampelte wie ein Rasender, bis das Wasserpflanzenbündel mich schließlich freigab. Ich zwang mich zu einem Abzählreim und einem Avemaria und bemühte mich in der Zeit, völlig reglos im Wasser zu schweben. Atmung und Puls beruhigten sich ein wenig, und ich stieß nur noch halb so viel Luft aus wie Moby Dick. Sehr vorsichtig ließ ich mich weiter hinab. Auf dem Weg nach unten wunderte ich mich, wieviel Mühe sich manche Leute machten, ihren Grobmüll loszuwerden. Wer, bitte, schleppt einen großen Röhrenfernseher zehn Meter weit durchs flache Wasser, um ihn dann in die Tiefe zu werfen? Mindestens zwei Leute hatten es getan, und das Corpus delicti hatte sich eine kleine Mulde in fünf Metern Tiefe gesucht, um dort auf die Auferstehung des Fleisches zu warten. Dito ein Fahrrad und ein Moped. Ich ließ den Müll, wo er war, und sank weiter ab. Bald zeigte mein Tiefenmesser fünfzehn Meter an. Ein todschickes, topmodernes Teil, genau wie der Rest meiner Ausrüstung. Rudi hatte extra einen verschwiegenen Freund an den Bodensee geschickt, um den ganzen Kram zu besorgen. Es tat mir in der Seele weh, das schöne, flammneue Zeug nach nur einem Tauchgang zu entsorgen, aber Rudi hatte darauf bestanden, dass absolut keine Spuren zurückbleiben durften.

 

Siebzehn Meter Tiefe. Hier irgendwo musste es sein. Allerdings ist die Orientierung am Ufer, ausgestattet mit einer detaillierten, wenn auch handgemalten Karte, erheblich leichter als in einer mondlosen Nacht, umgeben von algigem Wasser und mit einer Art Grubenlampe als einziger funzeliger Lichtquelle. Ich tastete mich am Steilhang entlang nach links. Nichts außer Wasserpflanzen, Steinen, Dreck. Dabei war ich ganz sicher, an genau der richtigen Stelle in den Tümpel gestiegen zu sein, schließlich hatten Paul und ich in den letzten drei Tagen das Ufer genau erkundet, getarnt als Touristen, inklusive Einmalgrill und Kühltasche. Die Karte war absolut exakt, und wir konnten die richtige Stelle eindeutig identifizieren. Ich war ja zunächst etwas skeptisch gewesen, als Ray vor einer Woche seine Skizze aufs Papier gehauen hatte, ohne einmal zu zögern oder aufzublicken.

 

„Glaub’ mir, Nobbe“, hatte er meine Zweifel zerstreut, „wenn du sieben lange Jahre lang Nacht für Nacht von dieser Karte geträumt hättest, könntest du sie auch zeichnen, notfalls mit verbundenen Augen und verknoteten Fingern.“

 

Ich seufzte. Vielleicht war ich bei dem hinterlistigen Angriff der Wasserpflanzen vorhin ein Stückchen zu weit abgedriftet. Also tastete ich mich langsam und methodisch wieder zurück nach rechts. Kurzfristig erwog ich ein weiteres Avemaria, entschied mich aber dagegen. Man will ja nicht unverschämt sein.

 

Außerdem: Wer weiß, ob sie nicht gerade anderweitig beschäftigt ist! brummte ich in Gedanken, und da der liebe Gott kleine Sünden bekanntlich sofort bestraft, stieß ich mir prompt das Knie an einem herausstehenden Ast. Der eine oder andere Fluch schoss durch den Kopf, kam mir aber angesichts des Mundstücks, das selbige umschloss, nicht über meine Lippen. – Vermutlich also eine lässliche Sünde. Ich rieb ein wenig an dem stechenden Schmerz im Knie herum und untersuchte dann dessen Ursache. Kein Ast, sondern ein veritabler Felsvorsprung, und zwar genau der, nach dem ich gesucht hatte! Ich ließ mich eine Zweidrittelkörperlänge weiter nach unten sinken, hatte nun den Kopf in Höhe des Vorsprungs und schaute erneut auf den Tiefenmesser. Genau 17 Meter!

 

 Anfänger, dämlicher!, schalt ich mich in Gedanken.

 

Ich hatte beim Seitwärts gleiten nicht ständig auf die Tiefe geachtet und war deshalb nicht waagerecht, sondern diagonal an der Wand entlang gekrabbelt. Die Felskante war einen guten Meter lang und ragte etwa dreißig Zentimeter weit ins Wasser hinaus. Unter der rechten Hälfte befand sich eine Art Höhle mit einem Eingang von gut vierzig Zentimetern Durchmesser. Tief war sie nicht, bereits nach zwanzig Zentimetern berührte man die Rückwand. Das jedenfalls würde jeder denken, der zufällig hier entlang tauchte und – noch zufälliger – seine Hand hier hineinsteckte. Ich nahm meine Grubenlaterne von der Stirn und leuchtete das Höhlchen genau aus – Stichwort: Aale! Da sich nirgends etwas bewegte und mich auch keine fischigen (oder gar sonstigen!) Augen anstarrten, machte ich mich an die Arbeit. Wie einst in der Tauchschule gelernt, vermied ich hektische Bewegungen und ging ruhig und systematisch vor. Rechts und links an der Basis der Rückwand befanden sich etliche kleinere und größere Steine, glitschig und von Algen, Flechten oder gottweißwas überwachsen. Es dauerte eine ganze Weile, sie alle wegzuschaffen, aber schließlich waren sie entfernt, und ich konnte die hintere Höhlenwand mittels eines Klappspatens umlegen, den ich extra zu diesem Zweck mitgebracht hatte.

 

Ray hat sich echt Mühe gegeben, dachte ich. Zufällig hätte dieses Versteck garantiert niemand entdeckt.

 

Die Steinplatte gab nach und wirbelte beim Umkippen jede Menge Schlamm und Algen auf. Ich wartete geduldig, bis das Wasser wieder klarer wurde. Dabei fiel mir ein, dass es Geräte gab, die den Trübungsgrad von Flüssigkeiten messen konnten und die man Turbidimeter nannte. Meine Bildung war quasi nicht vorhanden, aber ich hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und wenn man erstmal gelernt hatte, die aufgesammelten Wissensbrocken gekonnt und an den richtigen Stellen abzusondern, kam man damit erstaunlich weit... Das Wasser war jetzt klar genug, und ich leuchtete den freigelegten Teil der Höhle aus, so gut es ging: Ich hatte überhaupt keine Lust, als Entdecker der Biggeseemoräne in die Geschichte einzugehen und bei dieser Gelegenheit einen Arm zu verlieren!

 

Das Päckchen war eher ein Paket, und jetzt war es mit Ruhe und Gelassenheit vorbei! Ich griff danach, gierig wie ein Fünfjähriger nach seinen Weihnachtsgeschenken, verkantete es prompt am Höhlenausgang, zerrte und zog und fluchte. Als die Höhle ihren Schatz endlich freigab (An Land oder im Comic hätte man bestimmt ein „Plopp!“ gehört.), traf mich das unvorbereitet. Der Schwung meiner eigenen Anstrengungen ließ mich ein gutes Stück vom Steilhang wegtaumeln. Instinktiv umklammerte ich mit beiden Händen das Paket, um sofort festzustellen, dass Instinkt weit überschätzt wird: Ich ließ dabei das Grubenlicht fallen und befand mich spontan im Stockfinstern!

 

Natürlich kamen mir gleich die Horrorgeschichten von den Tauchern in den Sinn, die im dunklen Wasser die Orientierung verloren hatten und zu deren Gedenken man nun Blumengebinde ins Meer warf; natürlich geriet ich in Panik, und natürlich tat ich das Falsche. Ich paddelte wie wild mit den Flossen (Die Hände umklammerten nach wie vor das Paket wie der Teufel die verlorene Seele.) und kam schnell voran, ohne allerdings zu sehen, wohin. Der Schmerz, als ich mit dem Kopf heftig gegen etwas sehr Hartes stieß, war mir hochwillkommen, denn erstens beendete dies meine sinnfreie Hyperaktivität abrupt, und zweitens wurde mir klar, nachdem die Sterne aufgehört hatten, um meinen armen Schädel zu tanzen, dass ich gegen den Steilhang geknallt war, also den Weg Richtung Ufer erwischt hatte. Mir fiel wieder ein, dass man sich in Situationen wie dieser nicht unbedingt auf seinen Gleichgewichtssinn verlassen konnte, also krallte ich mich mit einer Hand an einer Wurzel fest und starrte ausdauernd und in alle Richtungen ins schwarze Wasser. Gerade wollte ich mich auf den schwachen Schein des Mondes zubewegen, als mir einfiel, dass der Mond nicht schien. – Früher am Abend hatte ich das für einen Vorteil gehalten!

 

„Verfluchtes Grubenlicht!“ dachte ich, richtete mich so gut wie möglich im Dunkeln aus und paddelte ganz dicht am Hang entlang in das, was ich für die entgegengesetzte Richtung hielt. Es kam mir unfassbar lang vor, aber schließlich durchbrach ich doch die Wasseroberfläche, zog mich über die Kante des Steilhanges und kniete im flachen Wasser. Nachdem ich Mundstück und Taucherbrille vom Gesicht gerissen, nahm ich mir erstens vor, am folgenden Tag eine Kerze in der St.-Marien-Kirche anzuzünden, und zweitens, Rudi und Ray allerlei Unfreundliches nach meiner Rückkehr nach Hagen zu erzählen.

 

Ich patschte ans Ufer. An Land war es nicht gar so dunkel, nachdem die Augen sich angepasst hatten, und so merkte ich schnell, dass ich mich offenbar auch beim Auftauchen diagonal am Hang entlang bewegt hatte. Jedenfalls war ich ein ganzes Stück von meinen Kleidern entfernt an Land gegangen. Also stapfte ich am Ufer entlang, alle paar Meter einen Schmerzensschrei unterdrückend, wenn wieder einer der Steine spitzer war, als es sich für einen anständigen Kiesel gehörte.

 

„Du machst einen Lärm wie eine ganze Herde Biggeseeelefanten!“ flüsterte es schließlich rechts von mir aus dem Gebüsch, und Paul trat hervor.

 

Einen guten Mann erkennt man daran, dass er nicht mit der Wimper zuckt, wenn sein Partner ihn mitten in der Nacht versucht zu umarmen und dabei mit einem schleimigen, tropfnassen und nicht sehr handlichen Paket jongliert. Er wischte sich die ärgsten Spritzer aus dem Gesicht, nahm mir das Paket ab und legte es vorsichtig auf den Boden. Dann umarmte er seinerseits meine neoprenverpackte Wenigkeit und fragte:

 

„War’s schlimm?“

 

„Umbringen werde ich die beiden!“ schimpfte ich. „Aber vorher werde ich dieses Scheißpaket zusammen mit dem widerlichen Neoprenscheiß und der ganzen anderen Scheiße in diesem Scheißsee versenken!“

 

„Ganz schön viel Scheiß in einem Satz“, kommentierte Paul trocken und blickte in Richtung Paket. „Das ist es also?“

 

„Ja“, antwortete ich, wider Willen nun doch etwas ehrfürchtig, „das ist der Grund, weshalb Ray sieben Jahre ohne Bewährung abgesessen hat.“