Hannos Frieden

 

Daheim! – Wie fremd das Wort klang hier in Flandern, im Dreck!

„Hat der Kaiser nicht gesagt, Weihnachten wär’n wir wieder daheeme?“ fragte Paul Lieberwirth und spuckte verächtlich auf den Boden des Schützengrabens. Paul war Sozialist, das wussten alle. Normalerweise war Hanno deshalb vorsichtig im Umgang mit ihm. Aber sie waren ja allein in ihrem Abschnitt, und es war der Heilige Abend, und Hanno hatte Heimweh, deshalb wagte er eine Antwort: „Aber er hat nicht gesagt, in welchem Jahr!“ Er spuckte ebenfalls aus, aber so gekonnt wie Paul würde er das wohl nie schaffen. „Daheeme“ hatte Paul gesagt. In Hannos Elternhaus wurde großer Wert auf Hochdeutsch gelegt, aber der sächsische Ausdruck für Zuhause trieb ihm die Tränen in die Augen. Er wandte sich halb ab, damit Paul nichts sehen und wieder abfällige Bemerkungen über verwöhnte Bürgersöhnchen machen konnte. „Lass ma‘, Kleener!“ Paul hatte ihm seine schwere Hand auf die Schulter gelegt. „Ich wär heut‘ ooch lieber bei meiner Ollen!“

Hanno schluckte schwer und hoffte, seine Stimme würde nicht zittern: „Ach, Paul, es ist ja nur, weil eben Weihnachten ist! Zuhause“, und hier er musste er nochmals schlucken, „zuhause wird der Christbaum geschmückt, und morgen früh gehen sie alle in die Kirche, und dann ist Bescherung und…“ „Und du fragst dich, warum du dich freiwillig gemeldet hast von der Uni weg, du blöder Hund!“ vollendete Paul den Satz gutmütig und verstärkte den Druck auf Hannos Schulter. „Also, ich will dir mal was erklären“, fuhr er fort und holte zu einer seiner weitschweifigen Reden über die herrschende Klasse aus, die noch nicht einmal davor zurückschreckte, die eigenen Söhne auf die Schlachtbank zu schicken, wenn es nur dem Kapital diente. Hanno kannte das schon, aber nicht nur deshalb unterbrach er Paul mit einem gezischten „Pssst!“.

Es war eine klare, windstille Nacht an diesem 24. Dezember 1914 in der Nähe des kleinen Ortes Wulverghem in Flamen, kaum 15 km von Ypern entfernt. Hier hatten sich das 104. und das 106. Infanterieregiment eingegraben, der Stolz der Sachsen. Nur hundert Meter entfernt, an manchen Stellen sogar deutlich weniger, lagen Franzosen, Briten, Belgier in Stellung. Von dort hörte man nichts in dieser Nacht. Aber von der Seite her kamen Töne zu Paul und Hanno herüber geweht. Vielleicht schrieb ein Kamerad einen Brief an seine Lieben und summte unbewusst die Melodie, jedenfalls konnte man sie deutlich erkennen: Es war „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Paul wollte wohl etwas sagen, beließ es aber vorsichtshalber bei einem Räuspern. – Vielleicht traute auch er seiner Stimme nicht in diesem Moment. Der Kamerad summte weiter, und dann fiel plötzlich eine klare, helle Stimme ein und sang den Text. Eine sehr junge Stimme, vielleicht von Hans Hamann aus Mittweida, von dem alle glaubten, er müsse seine Papiere gefälscht haben, um an die Front zu kommen; keiner hielt ihn für älter als 17. Er war noch nicht ganz beim „trauten, hochheiligen Paar“ angekommen, als ein kräftiger Bass zur Hilfe kam. Das musste der dicke Karl Uebiger aus Niederzwönitz sein, ein Schmied, der keine Gelegenheit ausließ, auf die Pfaffen zu schimpfen, die hüben und drüben die Kanonen segneten. Mehr und mehr Stimmen fielen ein, und bevor sie es merkten, hatten auch Paul und Hanno schon eine halbe Strophe mitgesungen. Ganz harmonisch war es wohl nicht, mancher sang eher bewegt als gut, und manch gestandener Mann musste zwischendurch aufhören mit dem Singen, weil ihn die Tränen hinderten. – Egal, es waren Hunderte, die an diesem Frontabschnitt im Niemandsland vom Wunder der Weihnacht sangen. Und dann hörten sie plötzlich noch mehr Stimmen in anderen Sprachen: Von gegenüber schallte ihnen das „Silent night, holy night“ der Briten entgegen, etwas nach links versetzt erklang das französische: „Douce nuit, sainte nuit“. Drei Mal sangen sie es, dann stimmte einer ein neues Lied an (Hanno hätte schwören können, es war der Erich Dietz aus Seifersbach), und wieder ging es mehrsprachig: „Herbei, o ihr Gläubigen“ klang es aus den deutschen Schützengräben, „Oh come, all ye faithful“ wehte von den Briten, und Hanno glaubte, hier und da auch das lateinische „Adeste, fideles“ gehört zu haben. Sie sangen und sangen, mancher vielleicht mehr als in seinem ganzen bisherigen Leben, viele inbrünstiger.

Paul tauchte zwischenzeitlich ab in den Unterstand, und Hanno argwöhnte, der bärbeißige Arbeiterführer wollte schamhaft ein paar Tränen weinen, aber da kam er auch schon wieder.  Auf einen Teller hatte er eine der unruhig brennenden Kerzen gestellt, mit denen sie ihre Behausung erhellten, und die zündete er an und stellte sie oben auf die Brustwehr, vorsichtig natürlich, denn wer wusste schon, ob die britischen Scharfschützen auch sangen? Das Kerzchen flackerte, aber es gab nicht auf. Nicht lange, dann tauchten überall Kerzen auf, wie Perlen auf einer Schnur. Die ganze Front war von Kerzen beschienen, hier und da hatten die Soldaten sogar die Tannenbäume aus den Verschlägen geholt, die die Oberste Heeresleitung an die Front geschickt hatte. Hanno konnte nicht anders, er musste über die Brustwehr schauen. Und tatsächlich, auch beim Feind leuchteten Kerzen.

Wer sich zuerst vorgewagt, das konnten Paul und Hanno hinterher nicht mehr sagen, aber auf einmal sah man mehrere Soldaten im Niemandsland zwischen den Schützengräben, unbewaffnet und ohne Helm! Sie gingen aufeinander zu, vorsichtig und mit erhobenen Händen, in denen manche Tabak hielten, andere eine Flasche Schnaps. Mittlerweile waren Hunderte von Köpfen zu sehen, alle starrten gebannt auf die Begegnung der Feinde. Die Wenigen begegneten sich ungefähr in der Mitte zwischen den Gräben, und die Hunderte jubelten. Binnen kurzem waren Dutzende von Soldaten aus den Gräben geklettert, diesmal nicht zum Sturmangriff mit aufgepflanztem Bajonett, sondern mit Tee, Kaffee (oder was man an der Front damals dafür hielt), Tabak in allen Formen. Man traf sich, verständigte sich mit Händen und Füßen. Hanno und Paul hatten Glück, dass sie unterwegs auf Dietrich Schlegel aus Thalheim getroffen waren. Der hatte damals, im Frieden, – Wie lange war das jetzt eigentlich her? – damals jedenfalls hatte der im Savoy in London als Kellner gearbeitet und konnte dolmetschen. Sie begegneten drei Scot’s Guards, bei deren Dialekt sich auch Dietrich schwer anstrengen musste, aber sie verstanden einander. Als die Guards Familienbilder hervorholten und einander stolz ihre Kinder präsentierten, schaute Hanno etwas verschämt zur Seite. Den derben Spruch Pauls zu diesem Thema musste Dietrich nicht übersetzen, er erntete auch so brüllendes Gelächter. Einer der Schotten hieb Hanno gemütvoll auf die Schulter und sagte etwas Laut-Derb-Fröhliches, das gleichwohl freundlich klang, und dann tauschten die beiden einen Uniformknopf. Überall standen Gruppen und Grüppchen beisammen, überall wurden Andenken getauscht, Adressen gar („Für nach dem Krieg!“), Offiziere waren dazwischen, grüßten ihre Gegenspieler höflich, nickten den niederen Rängen freundlich zu.

Und dann nutzten beide Seiten, ohne Befehl und ohne Verabredung, den kurzen Frieden im Krieg, um etwas Wichtiges zu tun: Sie bargen ihre Toten. Manche, die er aus dem Schlamm zog und in den Schützengraben brachte, waren Hanno vertraut, andere hätte wohl selbst die eigene Mutter nicht wiedererkannt. Sie brachten sie zurück, und die Geistlichen wären für den Rest zuständig. So leicht war es lange nicht gewesen, die gefallenen Kameraden zu heimzubringen.

Es folgte eine Nacht, in der mancher unruhig schlief, und dann der Erste Weihnachtstag. Als Paul und Hanno in den unveränderten Schlamm ihres Schützengrabens hinaustraten, sahen sie nur wenige Meter von ihrem Standort eine Fahne wehen. In schlechtem Englisch stand darauf: „We not shoot, you not shoot!“ – „Wir nicht schießen, ihr nicht schießen!“ Neugierig, aber vorsichtig lugten sie über die Brustwehr und sahen auf der anderen Seite eine Fahne: „Merry Christmas“

Diesmal war Hanno der Erste, der aus dem Graben kletterte. Bis ins hohe Alter konnte er nicht erklären, was ihn dazu getrieben, er wusste nur, er musste hinaus. Mit erhobenen Händen machte er ein paar Schritte, die verzweifelten Rufe Pauls ignorierend. Da bewegte sich etwas auf der anderen Seite, und Hanno wurde klar, in welcher Situation er sich befand: In einem mörderischen Krieg (Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits eine dreiviertelmillion Soldaten an der Westfront gefallen!), allein und in bequemer Scharfschützenreichweite. Der Helm, dessen Bewegung er wahrgenommen hatte, erhob sich noch ein Stückchen weiter, es zeigte sich ein Gesicht, dann Schultern, und schließlich kam ein Mensch gegenüber herausgeklettert. – Ein Mensch ohne Gewehr! Hanno und der Brite gingen aufeinander zu, und als sie sich in der Mitte des Geländes begegneten, fielen sie einander in die Arme, vor Freude wohl ebenso sehr wie vor Erleichterung, dass keiner sie unterwegs erschossen hatte.  Weitere Kameraden kamen hervor, als nichts passierte, und wieder wurde getauscht, deutscher Schnaps gegen englischen Rum, englische Zigaretten gegen deutschen Kautabak, und dann hatte plötzlich ein britischer Soldat einen Fußball in der Hand!

Zwei Pickelhauben auf der einen Seite, zwei Offiziersmützen auf der anderen markierten die Tore, und dann ging es los. Einen Schiedsrichter gab es nicht (Wer hätte schon den Unparteiischen spielen können in dieser Situation?), aber sie spielten fair. Hanno war immer ein guter Sportler gewesen, und er gab sein Bestes, bis er sich den Knöchel verstauchte. Paul spielte nicht elegant, aber sehr engagiert, und brach einem Gegner den Unterarm. Sie spielten im Schlamm, manchmal konnte man kaum laufen, geschweige denn den Ball treten, oft wateten sie mehr als dass sie liefen, aber sie spielten Fußball! Das „Spielfeld“ war umringt von Zuschauern, die ebenso oft ihre Jungs anfeuerten, wie sie sich mit den Fans der Gegner verbrüderten, um sich halbtot zu lachen, wenn wieder einmal ein Angriff buchstäblich steckenblieb. Es war ein Geholze und Gehacke, aber es war Fußball!

Man verabschiedete sich am Abend, jeder ging zurück in seinen Unterstand, und am Zweiten Feiertag gingen fast überall an der Westfront die Kämpfe weiter.

Monate später (Es war wohl im späten Juli 1915.) lagen Paul und Hanno immer noch am selben Abschnitt an der Front.  „Na, ob es wohl einen Extra-Sturmangriff gibt zum ersten Geburtstag unseres kleinen Spaziergangs nach Paris?“ fragte Paul zynisch. „Ausflug nach Paris“, das hatten Spaßvögel damals mit Kreide auf die Güterwagen geschrieben, mit denen sie an die Front transportiert wurden. Pauls Laune war seit Tagen schlimm, seit dem letzte Brief aus der Heimat. Seinen Ältesten hatten sie eingezogen, und Paul schwankte nun ständig zwischen Zorn und Verzweiflung. Hanno hätte ihm gerne etwas Tröstliches gesagt, aber was gab es da schon zu sagen? Er steckte die Hand in die Tasche und fühlte den Uniformknopf des Schotten, den er immer bei sich trug. Manchmal glaubte er, die Details des kleinen Dings genau fühlen zu können, den Strahlenkranz, die Distel in der Mitte, das Symbol Schottlands, das umlaufende Motto: „Nemo me impune lacessit“ – „Niemand reizt mich ungestraft“.  Er ballte die Faust um den Knopf und spuckte aus. Das konnte er jetzt schon viel besser! Nachdenklich schaute er seiner Spucke hinterher, und sein Blick blieb an einer Blechbüchse hängen, die wohl einem Kameraden aus der Tasche gefallen war und die – vorschriftswidrig – niemand weggeräumt hatte. Er gab der Dose einen mürrischen Tritt – und traf Paul am Schienbein.

Der fuhr hoch, und ein wütender Blick traf Hanno. Er rieb sich die getroffene Stelle und schaute nachdenklich auf die Dose, die einen knappen halben Meter weiter gerollt war. Ein Ausfallschritt, ein rasches Ausholen, und schon zischte die Büchse weniger Zentimeter an Hannos Gesicht vorbei und knallte gegen die Wand des Schützengrabens. Hanno kickte das Blechding zurück, und schon war ein Zweimannmatch im Gange. Hanno war jünger und schneller, aber Pauls schwerer Körper bestand auch nicht nur aus Fett! Sie schnauften und prusteten, mal jubelte der eine, mal der andere, wenn er die Büchse weit hinter den Gegner geschossen hatte. Einige Kameraden wurden aufmerksam, kamen näher und feuerten die beiden an. Auch ein Unteroffizier war dabei, er ließ sie gewähren.

Das Spiel endete durch einen besonders engagierten Schuss Pauls, der die Dose in hohem Bogen über die Brustwehr beförderte. Erschöpft lachend und gleichzeitig nach Luft ringend fielen sich Paul und Hanno in die Arme. „Du blöder Hund, du blöder!“ keuchte Paul zärtlich, und zum ersten Mal seit Tagen war sein Lächeln nicht zynisch.

Sie gingen zurück in ihren Unterstand und versuchten, die gröbsten Lehmklumpen aus ihren Uniformen zu bekommen. Gesprochen haben sie nie darüber, aber beiden war klar: Was sie am vergangenen Weihnachtsfest erlebt hatten, das würde sie durch diesen Krieg bringen – und weiter!

Das und ein kleiner Uniformknopf, hätte Hanno vielleicht ergänzt. Seinen Enkeln sagte er viel, viel später: „Damals war zwei Tage Frieden, weil Paul und ich das gewollt haben!“



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